20+03 ORTE
. [Inhalt] [Auswahl] [Liste] [Gestaltung] [Tafeln] [Map] [Eröffnung] [FrauenStadtSpaziergänge 2003] [Impressum]


CHRISTINE TOUAILLON
Pionierin der Literaturwissenschaft

geboren als Christine Auspitz am 27.2.1878 in Iglau, verheiratete Touaillon, gestorben am 15.4.1928 in Graz

Bezug zu Graz: suchte als erste Frau an der Grazer Universität, Philosophische Fakultät, (vergeblich) um Habilitation an.

Umfeld: Rosa Mayreder, Auguste Fickert, bürgerliche Frauenbewegung.



Christine Touaillon - Aufnahmejahr: um 1900

Seit frühester Kindheit wünschte sie sich leidenschaftlich, Literaturgeschichte zu studieren. Sie hatte das Glück, in eine Zeit geboren zu sein, in der dies kein unmöglicher Wunsch mehr für ein Mädchen war. 1897 wurde durch eine Verordnung des Kultus- und Unterrichtsministeriums der Zugang zur Universität den Frauen zumindest teilweise gestattet. Sie hatte die Volks- und Bürgerschule absolviert und erwarb die Reifeprüfung an einer Lehrerinnenbildungsanstalt. Trotzdem erkannte sie die Mängel der Bildung für Höhere Töchter, ihre Richtungslosigkeit und Planlosigkeit. Sie beschloss, neben dem Studium der Germanistik als außerordentliche Hörerin das Gymnasium nachzuholen und nahm daneben auch Privatunterricht. 1902 legte sie wie in dieser Zeit noch üblich, weil es keine Mädchengymnasien mit Maturaabschluss samt Universitätsreife gab, eine externe Maturaprüfung an einem Staatsgymnasium für Jungen ab. Nun studierte sie als ordentliche Hörerin und begann mit ihrer Dissertation. 1905 wurde sie zum Doktor der Philosophie promoviert.
Ein Jahr vorher schon hatte Christine Auspitz den Juristen Heinrich Touaillon geheiratet und zog mit ihm zuerst nach Graz, dann nach Vorau und später lebten sie in Stainz. In diesen Jahren gab sie zusammen mit Auguste und Emil Fickert das "Neue Frauenleben" heraus, die engagierte feministische Wiener Zeitschrift des Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins (Teil der bürgerlichen Frauenbewegung). Auch ein Buch entstand in dieser Zeit: das "Altwiener Bilderbuch". Sie war die erste Germanistin im deutschen Sprachraum, die sich wissenschaftlich mit Kinderliteratur beschäftigte. Als sie 1910 nach Stainz zog, ermutigte sie die Nähe zu Graz und seinen Bibliotheken zu einem neuen Thema: der deutschen Literatur von Frauen des 18. Jahrhunderts. Sie erkannte, dass sie eine Pionierarbeit für ihre Habilitation begann. Es gab weder Vorbilder noch Vorarbeiten. Zwei Jahre brauchte sie allein für die Vorarbeiten, weil keine Sekundärliteratur existierte. Sechzehn deutsche Bibliotheken stellten ihr im Lauf der Jahre ihre Bücher zur Verfügung. Erst 1918 konnte sie an die Drucklegung ihres großen Werkes "Der deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts" denken, in einer Nachkriegszeit der Entbehrungen. Nachdem sich ein Verleger fand, musste Christine Touaillon aber erst das Papier für das Buch mit 664 Seiten beschaffen. Durch die Vermittlung eines Freundes trat sie mit der Grazer Papierfabrik in Verbindung, die sich verpflichtete, 2000 Kilogramm Papier gegen 300 Kilogramm Schweine abzugeben. Rosa Mayreder notierte am 19.3.1918 in ihrem Tagebuch: "Mit Hilfe befreundeter Bauern werde sie also in den Stand gesetzt werden, das Buch, von dessen Erscheinung ihre Dozentur an der Grazer Universität anhängt, herauszubringen" (Leitner, S. 20). Christine Touaillon erwähnte noch im April 1919, dass die Habilitationsschrift zwar noch nicht im Buchhandel wäre, "...grauenhaft, wie schleppend das geht..." (Leitner, S. 28), aber es könne bis dahin nicht lange dauern. Am 11. Juli 1919 lag endlich das Gesuch von Christine Touaillon zur Erlangung der Venia Legendi dem Senat der Philosophischen Fakultät der Universität Graz vor. Wie reagierte das Kollegium, das ausschliesslich aus Männern bestand, auf dieses Ansinnen?
Wie sehr die Tatsache, dass Frau Touaillons Geschlecht ausschlaggebend war für die beabsichtigte zeitliche Verschleppung ihres Gesuches, beweist mit aller Deutlichkeit der Zusatz, den Professor Cuntz am 8.12.1919 dem Protokoll zufügt:
"Das Kollegium trägt starke Bedenken, ob Frauen überhaupt im Stande sind, auf junge Männer im Alter von 18 bis 25 Jahren, in dem bestimmte spezifisch männliche Eigenschaften am stärksten hervortreten, den erforderlichen pädagogischen Einfluss zu nehmen. Mittelschüler der oberen Klassen durch Frauen unterrichten zu lassen, hat man bisher nicht gewagt. Ob das bei Hochschülern ersprießlich, ja überhaupt möglich sein wird, ist als recht fraglich anzusehen. Umso mehr muss das zweite in Betracht kommende Moment einer über die gewohnten Anforderungen hinaus festgestellten Fachbeherrschung betont werden." (Leitner, S. 39)
Rosa Mayreder kritisierte das Grazer Professorenkollegium der Philosophischen Fakultät, "welches so engherzig verfuhr, dass ihr trotz der gesetzlich den Frauen gewährten Rechten die Habilitierung verwehrte" (Leitner, S. 25)!
Während in Graz das Verfahren bewusst verschleppt wurde, wurde Christine Touaillon 1921 in Wien als Privatdozentin für neuere deutsche Literatur zugelassen. Sie war damit die erste habilitierte Germanistin in Österreich. Jahre der Lehrtätigkeit folgten: Sie hielt Vorlesungen über "Den Roman der Aufklärung", "Das naturalistische Drama des 18. Jahrhunderts", "Moderne Romanströmungen", "Literaturhistorische Übungen", "Moderne deutsche Lyrik", "Die Anfänge des deutschen Romans im 16. Jahrhundert", "Der Roman der Aufklärung und seine Gegenströmungen: Ritter-, Räuber- und Geisterroman" und viel mehr.
Aber sie trug nicht nur einer akademischen Hörerschaft vor, sondern las einem vielschichtig zusammengesetzten Publikum im Wiener Verein "Volksheim" vor. An der Grazer Urania hielt sie unter der Rubrik "volkstümlich-wissenschaftliche Einzelvorträge" Vorträge zur Geschichte des deutschen Romans. Ihre Nähe zur Sozialdemokratie bewahrte sie ihr Leben lang, trat ihr aber nie bei. Ihren Aussagen gemäß wurde ihr sogar ein Landtagsmandat angeboten, was sie aber aus Überlastungsgründen zurückwies. "Konkret umgangssprachlich ausgedrückt: Sie zerspragelt sich." (Schnedl-Bubenicek, S. 72)
Sie war aktives Mitglied der "Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit" und sie führte auch das Leben einer bürgerlichen Hausfrau, die Gäste und Haushalt umsorgte und auch den als Notar überlasteten Gatten. Für die Kinder, die sie im Sommer beherbergte, schrieb Christine Touaillon "Katzengeschichten". In "Murillos Abenteuer. Ein Katzenmärchen", spielte sie liebevoll auf die Kinderlosigkeit dieser Ehe an. Ihr Tod im 50. Lebensjahr traf Christine Touaillon überraschend. Im Frühjahr war sie in die psychiatrische Abteilung des Landesnervenkrankenhauses "Feldhof" in Graz eingeliefert worden, mit der einweisenden Diagnose "Klimakterium". Sie starb, wie die Obduktion ergab, an einer Entzündung der Herzinnenwand, in deren Folge eine Hypertrophie des Herzens sowie Embolien im Gehirn auftraten.
Obwohl Christine Touaillon selbst von der Verschleppung des Verfahrens in Graz unabhängig geworden war, weil sie die Dozentur an der Wiener Universität bekam, waren Methoden und Auswirkungen des de facto Frauen Ausschlusses aus den höheren akademischen Graden in Graz bemerkenswert. Am 1.12.1919 beschloss eine eigens dafür geschaffene Kommission der philosophischen Fakultät eine Anforderung an die weiblichen Habilitationsbewerberinnen nach einer höheren Qualifikation als männliche, weil "...erfahrungsgemäß Unterschiede zwischen der durchschnittlichen Begabung der beiden Geschlechter bestehen, welche zu Bedenken in Bezug auf die Originalität und Selbständigkeit weiblicher Privatdozenten Anlass geben und ihre Befähigung in Frage stellen können, auf männliche Hörer den erforderlichen pädagogischen Einfluss zu üben." (Leitner, S. 38) Frauen mussten nicht nur wie die männlichen Bewerber eine Befähigung zum wissenschaftlichen Arbeiten nachweisen, sondern als "unerlässliche Bedingung" den Nachweis des gesicherten wissenschaftlichen Rufes. Trotz dieses rechtlichen Verstoßes wurde dieser Beschluss mit Zweidrittelmehrheit von der philosophischen Fakultätssitzung angenommen.
Am Germanistischen Institut in Graz wurde erst im Jahr 1993 eine Frau, Dr. Beatrix Müller-Kampel, erfolgreich habilitiert.


Ausgewählte Literatur:
Rainer Leitner, Christine Touaillon, geb Auspitz, 1878-1928, Gelehrte und Feministin. Versuche eines Portraits. Phil.Diss., Graz 1991.

Hanna Schnedl-Bubenicek, Wissenschafterin auf Umwegen. Christine Touaillon, geb. Auspitz (1878-1928). Versuch einer Annäherung, in: Wolfgang J. Huber, Rudolf G. Ardelt, Anton Staudinger (Hg.), Unterdrückung und Emanzipation. Festschrift für Erika Weinzierl zum 60. Geburtstag, Wien-Salzburg 1985.

Text und Recherche: Ilse Wieser

< [ weiter > ]
[ top ]