20+03 ORTE – Recherchen, Auswahl
Sagen, was ist - das verändert die Welt
Hannah Arendt
Historische Recherche und Vorarbeiten:
Seit etwa 15 Jahren arbeiten die Historikerin Mag. Brigitte Dorfer und die Kulturvermittlerin Ilse Wieser zur Grazer Frauengeschichte. Sie recherchieren Biografien von Frauen, deren Leben mit/in Graz Spuren hinterlassen hat. Sie suchen Dokumente über Frauen in Graz – sei es in der Literatur, in Archiven oder in Gesprächen.
Durch die Recherchen für die verschiedenen Themen der FrauenStadtSpaziergänge, die sie seit 1991 durchführen (Organisation: Verein FRAUENSERVICE Graz – Bildungsreferat), erarbeiteten und sammeln sie Materialien – als erste Schritte zur Erfassung Grazer Frauengeschichte. Viele Biographien und Themen sind allerdings noch völlig unaufgearbeitet.
Nahezu gänzlich fehlen bisher sichtbare Hinweise im öffentlichen Raum (z.b. Denkmäler, Straßennamen, etc.) auf die Leistungen von Frauen – eine Tatsache, aus der die Bildungsreferentin des FRAUENSERVICE, Bettina Behr, im September 2000 die Idee zu WOMENT! sowie zu „20+03 ORTE“ entwickelte.
Auswahl der 23 Orte:
Ausgehend von den Recherchen von Brigitte Dorfer und Ilse Wieser für die verschiedenen Themen der FrauenStadtSpaziergänge erstellten sie eine Liste mit ca. 70 „Themen“: Frauen und ihre Biographien, Frauengruppen und für Frauen bedeutsame Ereignisse in Graz.
Für die darauffolgende Begrenzung auf nur 23 ORTE entwickelte Bettina Behr folgende Auswahlkriterien: Historische und aktuelle frauengeschichtliche und feministische Bedeutung - Anknüpfungen zu den WOMENT!-Netz-Partnerinnen – Realisierungsmöglichkeiten.
Wichtig war eine breite und ausgewogene Streuung bei der Auswahl: Künstlerinnen und eine Kochbuchautorin sollten genauso vertreten sein wie Politikerinnen, Wissenschafterinnen, Widerstandskämpferinnen, die Frauenbeauftragte, eine als Hexe verfolgte Frau. Institutionen und Vereine, die sich mit feministischer Politik, feministischer Kultur, unbezahlter/schlecht bezahlter Arbeit, Ausländerinnen, Mädchen- und Frauenbildung, Religion und Frauenbewegung beschäftigen, werden vorgestellt. Ereignisse und Frauenprojekte, die Widerstand gegen sexualisierte Gewalt, Preispolitik und staatliche Gewalt beinhalten, sind von gleicher Wichtigkeit.
Die Auswahl der Themen/Orte wird auch von der Quellenlage bzw. dem Vorhandensein von Literatur bestimmt, aber auch von Themen, Biografien bzw. Ereignissen, die noch nicht gewürdigt wurden bzw. die bisher nicht im Stadtbild erscheinen.
Eine Gemeinsamkeit der ausgewählten Frauen, Frauengruppen sowie für Frauen wichtige Orte/Ereignisse ist Widerständigkeit - gegen traditionelle weibliche Anforderungen und Rollenzuschreibungen, gegen totalitäre Systeme, gegen Gewalt ... die jeweilige Form der Widerständigkeit ist unterschiedlich. Pionierinnen in ihren jeweiligen Wirkungsfeldern sind ebenso vertreten wie frauenhistorisch bedeutsame Ereignisse. Die 23 ORTE erzählen nicht nur Erfolgsgeschichten, sehr oft sind die Biografien der gewürdigten Frauen von Brüchen gekennzeichnet.
Die Tafel „Für Opfer und Überlebende sexualisierter Gewalt“ gedenkt all jener, die von sexualisierter Gewaltausübung betroffen waren oder sind.
Ein Beispiel zur Auswahl der Orte ist die Suche nach einem passenden Ort für Inge Morath.
Mit Inge Morath stand Brigitte Dorfer seit etwa zwei Jahren in Kontakt. Sie zeigte sich sehr verbunden mit Graz, obwohl sie nie lange hier lebte. Die Verbindung ergab sich vor allem durch ihre Familie (beide Großeltern lebten hier). Inge Morath kehrte in den Sommerferien gerne nach Graz zurück und verbrachte viel Zeit bei ihrer Großmutter Alexandra Mörath, die in einer Wohnung am Jakominiplatz gelebt hat.
Inge Morath erzählte über ihre Großmutter in den schillerndsten Farben – eine Frau mit vielen kreativen Talenten und Fähigkeiten. Schließlich entschied sie sich für dieses Haus als ihren „Wunschort“ und als Verortung des Gedenkens an sie und ihre Großmutter. Dann begann die „technische Recherche“ von Dorfer – das Erheben der Hausnummer, des jetzigen Hausbesitzers und der Möglichkeit, dort an Inge Morath zu gedenken.
Quellenlage:
Die Quellenlage zu den Themenbereichen ist sehr unterschiedlich – einige Themen sind relativ gut und/ oder zahlreich aufgearbeitet (zum Beispiel Mädchenbildung), andere wiederum überhaupt nicht.
Ein Thema, das vor allem über die sogenannte graue Literatur - d.i. das Aufarbeiten von Flugblättern, Aussendungen, Infos, die im DOKU Graz gesammelt werden – erarbeitet wurde, ist der Internationale Frauentag in Graz. Seit dem Jahr 1984 wird im DOKU archiviert – Fotos, Flugblätter, Infomaterial, Sitzungsprotokolle, z.T. sind auch noch handschriftliche Mitschriften vorhanden. Die Zeit davor ist leider nicht dokumentiert.
In diesem Fall greifen Dorfer und Wieser auf Zeitungen und Zeitschriften als Quellen zurück. Hier ist zu bedenken, in welcher Form Medien über Aktionen von Frauen berichten.
Eine wesentliche Form der Quellen sind mündliche Quellen: Gespräche und Interviews von Dorfer und Wieser mit Frauen, die im Rahmen des Projekts gewürdigt werden (Maria Cäsar, Inge Morath, Olga Neuwirth, Grete Schurz) oder mit Menschen aus dem Umfeld der Frauen (Elisabeth Rottleuthner).
Einen Sonntag Nachmittag konnte Dorfer im Haus von Elisabeth Rottleuthner, der Tochter der ersten Absolventin der Architektur, verbringen. Das Haus, in dem Herta Frauneder gelebt und gearbeitet hat, trägt ganz ihre Handschrift, z.B. von ihr entworfene Möbel Elisabeth Rottleuthner lässt Einblick gewähren – alte Pläne, mit Tusche gezeichnet, Fotos von Bauten, Familienfotos, Erinnerungsstücke.
Für den Text über das "Besetzte Haus im Tierspital", zu dem es nicht einmal "Graue Literatur" gibt, wurden vier anonymisierte Interviews gemacht, um die Ereignisse zu dokumentieren. Immer mehr Spuren davon werden beseitigt: Heute ist vom besetzten Haus nur mehr ein historischen Torbogen zu sehen.
„Technische Recherche“:
Fast alle Hausbesitzer/innen waren sehr erfreut, dass ihr Haus im Projekt WOMENT! Platz finden sollte. Viele sahen es als Auszeichnung, im Rahmen von Graz 2003 Kulturhauptstadt Europas auch einen Beitrag zu leisten. Die Gestaltung (Größe, Form, Texte) der Gedenktafeln ist dabei wichtig, um die Zustimmung der HausbesitzerInnen bzw. weiterer relevanter Stellen - Denkmalschutz, Altstadtkommission, etc. - zu erhalten.
Bettina Behr, Brigitte Dorfer, Ilse Wieser
August 2002
Idee, Konzeption, Projektleitung: Maga. Bettina Behr
Historisches Konzept, Recherchen und Vermittlung: Maga. Brigitte Dorfer und Ilse Wieser
WOMENT!-Netz-Partnerin: FRAUENSERVICE Graz
Brigitte Dorfer:
Maga., Studium der Germanistik und Geschichte in Graz. 1992 – 95 Lektorin an der Universität Pisa (Italien); Lehrbeauftragte an der Karl-Franzens-Universität Graz. Seit 1996 Lektorin am Vorstudienlehrgang der Grazer Universitäten.; Seit 1991 Konzeption und Leitung der Grazer FrauenStadtSpaziergänge, Leitung von Frauen-Geschichtswerkstätten gemeinsam mit Ilse Wieser; Veröffentlichungen sowie Vorlesungen zur Frauengeschichte, Karl-Franzens- und Technische Universität Graz.
Kontakt: b.dorfer@utanet.at
Ilse Wieser:
Konzeption und Leitung von Geschichtswerkstätten zur Frauengeschichte, Bezirksgeschichte und Naturgeschichte der Stadt Graz seit 1990. Konzeption und Leitung der Grazer FrauenStadtSpaziergänge seit 1991. Kulturvermittlung und Projektkoordination im Museums- und Ausstellungswesen seit 1986. Herausgabe eines Stadtgeschichtebuches mit Carmen Unterholzer: „Über den Dächern von Graz ist Liesl wahrhaftig. Eine Stadtgeschichte der Grazer Frauen.“ Wien/Graz 1996. Koordination des Personalentwicklungsprojektes "Frauen an der Universität" an der Universität Graz seit 2001.
Kontakt: ilse.wieser@magnet.at
Literatur/Auswahl:
BEHR B., Die Krebsinnen. Feministische Öffentlichkeitsarbeit am Beispiel der Zeitschrift Laufschritte des Vereines FRAUENSERVICE Graz 1985 – 1999. Diplomarbeit 2001. www.frauenservice.at/diekrebsinnen
DREIER V., Denkmäler und Denkstätten in Graz, Untersuchung zur Geschlechterdifferenz in der öffentlichen Repräsentation des Rollenbildes der Frau. Graz, 1990
GRUBITZSCH H., Frauen machen Geschichte. Aspekte einer feministischen Geschichtsforschung; in: HEER H., ULLRICH V. (Hg.); Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung. Reinbek 1985
KRUSE T., Das Buch der Fülle. 2001
KUBINZKY K.A., WENTNER A.M., Grazer Straßennamen, Herkunft und Bedeutung. Graz, 1998
KUHN A., Frauengeschichtsforschung. Zeitgemäße und unzeitgemäße Betrachtungen zum Stand einer neuen Disziplin; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1990
ROSSMANN E., Frauensache. Beruf, Familie, Politik. 1997.
UNTERHOLZER C., WIESER I. (Hrsg.), Über den Dächern von Graz ist Liesl wahrhaftig. Eine Stadtgeschichte der Grazer Frauen. Wiener Frauenverlag/MILENA Verlag, 1996
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